Der AfD-Chef Alexander Gauland sagte auf dem Bundeskongress des Parteinachwuchses ‘Junge Alternative’ am 2. Juni 2018 in Seebach in Thüringen, Hitler und die Nazis seien nur ein ‘Vogelschiss’ in mehr als 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte gewesen. Zuvor hatte sich Gauland zur ‘Verantwortung für die 12 Jahre’ (NS- Regime von 1933 bis 1945) bekannt. [Quelle: Zeit]
Gauland rechtfertigte sich später damit, dass er mit dem Begriff ‘Vogelschiss’ seine ‘tiefste Verachtung’ gegenüber den Geschehnissen im 3. Reich (u.a. Verfolgung der Juden, Holocaust und Angriffskrieg zur Eroberung von ‘Lebensraum im Osten’) zum Ausdruck bringen wollte.
Stellungnahme von Alexander Gauland zur ‘Vogelschiss- Rede’
Der Ausdruck ‘Vogelschiss der Geschichte’ kann aber auch als Bagatellisierung der Ereignisse verstanden werden. Man mag Gauland zugute halten, dass er den Vergleich als Gegenbild zur anti- deutschen Propaganda wählte, in deren Narrativ das 3. Reich und gerne auch noch der deutsche Kolonialismus von 1884 bis 1919 bisweilen als die einzig nennenswerten Ereignisse der deutschen Geschichte erscheinen, während die Überwindung der selbstverschuldeten Unmündigkeit durch die Aufklärung, der Beginn der Rechtsstaatlichkeit durch den ‘Ewigen Landfrieden’, die Grundsteinlegung der Menschenrechte in den 12 Artikeln der Memminger Bauern zu Zeiten des Bauernkrieges, das Erringen der religiösen Toleranz in der Reformation und dem blutigen 30- jährigen Krieg, das Erkämpfen des Sozialstaates als Konsequenz aus der industriellen Revolution, die deutschen Beiträge zu Wissenschaften, Philosophie, Musik, Kunst und Weltliteratur und weiteres mehr offenbar keine erwähnenswerten geistesgeschichtlichen oder kulturellen Leistungen darstellen.
Psychologisch vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, bleibt der Begriff dennoch sachlich falsch: Das 3. Reich war ein Kultur- und Zivilisationsbruch. Der Holocaust und der Eroberungskrieg für ‘Lebensraum im Osten’ stellen eine Zäsur in der deutschen Geschichte dar. Diese prägt auch heute noch, 85 Jahre nach der ‘Machtergreifung’ Adolf Hitlers, das deutsche Selbstverständnis und die deutsche Politik, ob einem die Art und Weise, wie das geschieht, gefällt oder nicht.
Wenn SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil also meint, der Ausdruck ‘Vogelschiss’ sei eine ‘Verharmlosung des Nationalsozialismus’, so hat er damit Recht. Das ist ebenso eine Verharmlosung des Nationalsozialismus, wie sie Klingbeils Parteigenosse Johannes Kahrs betreibt, wenn er Gauland und die AfD in die Nähe von Adolf Hitlers Nationalsozialisten rückt.
Schuld versus Verantwortung
Wichtig bei der Bewertung des Dritten Reiches aus Sicht der Nachgeborenen, also derjenigen, die sich der ‘Gnade der späten Geburt’ erfreuen können, ist die klare Unterscheidung zwischen Schuld, die seit der Aufklärung und der Abkehr von Erbsünde, Blutrache und Sippenhaft stets eine persönliche ist, die man durch eigenes Tun oder vorsätzliches Unterlassen auf sich lädt und daher niemals Kollektivschuld sein kann, und Verantwortung, die jeder Mensch auf der ganzen Welt für Gegenwart und Zukunft trägt. Dieser Unterschied wird zwar in aufgeklärten Diskursen kaum einmal bestritten, in der politisch-propagandistischen Praxis aber umso hemmungsloser verwischt. Immer wieder klingt in der Hitze der Gefechte und selbst bei politischen Ansprachen gelegentlich das völlig absurde Argument durch, dass die Nachgeborenen die Sünden ihrer Vorfahren abzubüßen hätten. Nein, das müssen sie definitiv nicht, auch nicht ein kleines bisschen. Der Zweck der Aufarbeitung und des Gedenkens an den Holocaust im Lichte der Aufklärung ist es ja gerade, die archaischen Muster von Erbsünde, Erbschuld und Blutrache zu überwinden! Wer aber Bußübungen verlangt, der hat entweder keine Ahnung oder er will betrügen. Punkt!
‘Tiefe’ Schuld: Vermischen von Schuld und Verantwortung, hier am Beispiel des Kolonialismus: Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem 48. Weltwirtschaftsgipfel in Davos, 24. 01. 2018 [Ersatzlink | ganze Rede]
Eine Schuld oder eine Verpflichtung zur Buße gibt es bei den Nachgeborenen also nicht. Ihre Verantwortung besteht darin, die Erinnerung an die Geschichte wach zu halten, auf dass die Menschheit daraus lernen möge.
Die Generation der Täter ist inzwischen bis auf wenige Ausnahmen verstorben. So sieht es auch die Holocaust- Überlebende Anita Lasker-Wallfisch in ihrer Rede am 31.01.2018 im Bundestag: “Inzwischen sind über 70 Jahre vergangen. Die Generation der Täter gibt es nicht mehr. Man kann es eigentlich der heutigen Jugend nicht verübeln, dass sie sich nicht mit den Verbrechen identifizieren wollen. Aber leugnen, dass auch das zur deutschen Vergangenheit gehört, darf nicht sein.”
Instrumentalisierung des Holocaust
Ebenso unangemessen wie das Leugnen oder Relativieren des Holocaust ist es daher, das gigantische Verbrechen des Holocaust zur ‘Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken’ zu missbrauchen, wie Martin Walser bereits 1998 in seiner denkwürdigen Rede in der Frankfurter Paulskirche anmahnte.
Die Instrumentalisierung des Holocaust in Form der Vermischung von Schuld & Verantwortung und dem daraus abgeleiteten Buß- und Sühne-Anspruch löst Abwehrmechanismen aus, führt bei den einen zur Leugnung des Holocaust und Rechtsextremismus und bei den anderen zu Selbstverleugnung, Identitätsverlust und Identifikation mit dem (hypermoralischen) Aggressor analog zum Stockholm-Syndrom. Der ungerechtfertigte und destruktive Schuldvorwurf an die Nachgeborenen (auf Basis von Gesinnungsethik!) muss daher aufgelöst werden zu einer konstruktiven verantwortungs-ethischen Sicht auf Politik & Gesellschaft.
Der Holocaust taugt auch nicht dazu, von deutschen Eliten als Legitimation für eine wenig bürgerfreundliche Politik instrumentalisiert zu werden, die ihnen selbst die Karriere sichert und Pfründe verschafft und beim einfachen Volk zu Altersarmut, Wohnungsnot, Niedriglöhnen und Gewalt im öffentlichen Raum führt. Ganz im Gegenteil, der Holocaust ist vielmehr eine Aufforderung an ALLE Menschen im Allgemeinen und die Deutschen im Besonderen, dafür zu sorgen, dass sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht wiederholen.
Instrumentalisierung des Holocaust? Gottfried Curio analysiert die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 8. Mai 2020
Wer das Ernst nimmt, der wird sich bemühen, es in in Gegenwart und Zukunft besser zu machen und daher eine gerechte und verantwortungsethische Politik betreiben, die ein Miteinander durch einen inner- wie intergesellschaftlichen Interessenausgleich auf der Grundlage von fairem Geben & Nehmen anstrebt! Eine Stärkung der Zentrifugalkräfte und eine Spaltung der Gesellschaft zwischen arm und reich, links und rechts, schwarz und weiß oder Mann und Frau gehört gewiss nicht dazu! Ebenso wenig eine Spaltung in wissende Eliten und unwissendes Volk, das in Deutschland inzwischen Züge einer Schuldumkehr angenommen hat, indem sich die politisch-mediale Klasse in unseliger Blockwart- und Spitzel- Tradition als Aufpasser auf das Volk aufspielt und ihre abenteuerlichen Sonderwege damit legitimiert.
Hätten Deutschland und die Welt wirklich aus dem Holocaust gelernt, so gäbe es weder Jugend- und Altersarmut daheim noch Hungersnöte in der Dritten Welt, weder Wohnungsmangel noch unfaire Handelsabkommen, weder Niedriglohn noch Importe von durch Kinderhand geschaffenen Produkten, weder mehr Gewalt im öffentlichen Raum noch Waffenverkäufe an fragwürdige Staaten und obskure Regime- Changes auf Basis fadenscheiniger Vorwände oder gar glatter Lügen, weder – - weiter gedacht – familienfeindliche Strukturen und einen Geburtenstreik im Westen noch eine Bevölkerungsexplosion in gering entwickelten Ländern, sondern überall auf der Welt ein weitgehend gerechtes und auskömmliches Miteinander der Menschen.
Politischer Flurschaden
Ob ‘Alexander der Alte’ vielleicht dem Schulz- Zug Konkurrenz machen wollte? Mit derart verunglückten Sprachbildern macht man sich das Leben jedenfalls nicht leichter, denn man gibt dem politischen Gegner damit Gelegenheit, von seiner eigenen verunglückten Politik abzulenken.
Mein Kommentar zur Entgleisung vom Gauland- Express lautet daher ungefähr so: “Tut mir leid: Ein Genozid ist kein Vogelschiss, sondern ein Super- Gau. Ein Zivilisationsbruch. Was man auch leicht daran erkennen kann, dass er bis heute fortwirkt und der Auslöser für den nächsten Kulturbruch ist. Ein Massenmord, der noch 75 Jahre danach vielen offenbar die Lust am eigenen Leben nimmt und bei etlichen sogar einen mentalen Suizid auslöst. – Die aktuelle Politik der GroKo wird durch diese Aussage allerdings keinen Deut besser. Tut mir (gar nicht) leid: Ich lebe im Hier & Jetzt.”
Ein fb-Freund drückte es noch ein wenig prägnanter aus: “PR-Flachmann #Gauland schafft es erneut, mit einer völlig überflüssigen Bemerkung über vergangene Scheisse die mediale Aufmerksamkeit von dringend nötigen Bemerkungen (zu) aktueller Scheisse abzulenken. – Kann diesen Rückspiegelpolierer nicht mal langsam jemand zur Raison bringen? #kontraproduktiv”
Links:
Gaulands „Vogelschiss“ – Symbol deutscher Befindlichkeit
‘Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken’
Denkwürdige Rede von Martin Walser [E], Paulskirche Frankfurt, 1998
‘Die zweite Lebenslüge der Bundesrepublik: Wir sind wieder “normal” geworden’ – Aufsatz von Jürgen Habermas in der (1992, Zeit) [E]
Der Fall Gauland / Boateng:
Der Shitstorm, der nach hinten los ging (djv-bb.de)
DLF / Detjen: Gauland beleidigt Boateng? (.mp3)
Entsorgen ist (nicht) gleich Entsorgen (Achgut | Rheinpfalz)
Grafik:
– Sanchezn [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
– Metropolico.org [CC BY-SA 2.0 or CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons
Ich finde durch spitzfindigkeiten entfachte Streitereien sind für den gesellschaftlichen Konsens sehr schädlich! Wir haben es mit Menschen unterschiedlicher Bildung, Intellekts und kultureller Wurzeln zu tun und nichts macht aggressiver wie Unrecht! Und Aggression bedeutet erneutes Leid und eine Spirale der Gewalt!
Sachliche Diskusionen über Probleme bringen Lösungen, Hetze wie Nazis, Linke teilen (Teile und Herrscheprinzip) und führen zur Vernichtung der Menschheit!
Es gibt viele Strategien, um mit der Ungeheuerlichkeit oder mit der Instrumentalisierung des Holocaust zurecht zu kommen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Abwehrmechanismus