Das Dritte Reich: Blaupause des Totalitarismus?
Die meisten Deutschen fühlten sich im Dritten Reich bis zum Beginn des WK2 im Großen und Ganzen wohl. Wirtschaftlich ging es ihnen gut. Gewalt, Diskriminierung und Herabwürdigung gegen Juden, gesellschaftliche Außenseiter und politisch Andersdenkende wurden wie in diesen Tagen unter ‘bedauerliche Einzelfälle’ verbucht und verdrängt.
Eine ernüchternde Schlussfolgerung aus der Rezension des Buches: ‘Hitlers Deutsche’ (1) von Hans-Jürgen Eitner aus dem Jahre 1991 zur Psychologie der Menschen, des Volkes und der Massen im Dritten Reich. Nach Ansicht Eitners waren pauschal 90% der Bürger Mitläufer. Mitläufer in dem Sinne, dass sie weder aktiven noch passiven, direkten oder indirekten Widerstand gegen den Mainstream der Propaganda in Politik und Medien leisteten, weil sie wirtschaftlich profitierten oder zu profitieren glaubten oder andernfalls Nachteile befürchten mussten. Die Ausgrenzung und Verfolgung von Juden fanden die meisten nicht gut, aber sie verdrängten das und verschlossen die Augen davor.
Niemals zuvor – und übrigens auch nie wieder danach (!!! – Stand 1990) – ging es der großen Mehrheit der Deutschen wirtschaftlich so gut wie kurz vor dem WK2. Das ist ein wesentlicher Grund für die Zustimmung zum und das Einverständnis mit dem Regime. Auch und gerade Intellektuelle, welche die NS-Zeit im Rückblick sehr kritisch betrachteten und sich davon distanzierten, biederten sich an.
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Pluralistische Ignoranz, kognitive Dissonanz & Gewöhnung
Ich halte ein derartiges Verhalten, nämlich dass der Großteil der Menschen mitläuft und gerade fähige und ehrgeizige Menschen sich andienen und die Augen vor Fehlentwicklungen sowie vor Ungerechtigkeit und Willkür gegenüber Dritten verschließen, wenn es der Karriere nützt oder sie sich sonstige persönliche Vorteile oder wenigstens das Vermeiden von Nachteilen davon versprechen, nicht für ein an eine spezifische kulturelle Mentalität gebundenes Phänomen. Es ist eine weit verbreitete Einstellung gerade in einer modernen, arbeitsteiligen und auf gegenseitige Konkurrenz wie Verflechtung zugleich gegründeten Massengesellschaft, in der ein Einzelner nicht einmal für kurze Zeit autark sein kann und aufgrund vielfältiger Abhängigkeiten sozialer wie materieller Art enormem Anpassungsdruck ausgesetzt ist und verloren ist, wenn er sich widersetzt. Das Beharren auf dem eigenen, objektiv richtigen Urteil kann mit größeren persönlichen Nachteilen verbunden sein als die Anpassung an die objektiv falsche vorherrschende Meinung darüber in einer Gesellschaft.
Aus Furcht vor Ausgrenzung oder Verunsicherung passen viele Menschen ihre Meinung dem oftmals fälschlicherweise vermuteten Urteil anderer an (pluralistische Ignoranz), unter Inkaufnahme und Verdrängung von Widersprüchen zwischen eigenem Urteil, eigener Einstellung und Wahrnehmung (kognitive Dissonanz). Man vertraut anderen mehr als sich selbst und die Hoffnung auf ein gutes Ende durch Fügsamkeit gegenüber Autoritäten und Abtauchen in der Masse überwiegt den Zweifel am eingeschlagenen Kurs.
Pluralistische Ignoranz – Lisa Fitz: ‘Deppenstraße im Tal der Ahnungslosen’ 😉
Die große Mehrheit in einer Gesellschaft, zumal in einer Massengesellschaft, folgt der Obrigkeit, solange sie materiell ein Auskommen hat und es ihr gelingt, die gesellschaftlichen Verwerfungen und Brüche von sich fernzuhalten. Und wie wir bereits im Dritten Reich und im WK2 sahen und auch heute wieder sehen, folgt sie auch dann noch für eine sehr lange Zeit, wenn die Entfremdung von den natürlichen Bedürfnissen und der Niedergang von Lebensqualität und Wohlstand mit großen Gefahren begründet wird oder nur allmählich und schleichend genug in homöopathischen Dosen vonstatten geht und zudem die Propaganda gründliche Arbeit verrichtet.
Selektive Themenwahl, Framing, ständige Wiederholungen, die Schweigespirale, das Erzeugen von Angst oder Schuldgefühlen, das Aktivieren egoistischer Instinkte wie Habgier, aber auch sozialer Instinkte wie Gerechtigkeitssinn, Ehrgefühl oder Mitleid stellen damals wie heute wichtige Propagandamethoden oder -techniken dar.
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Die einsame Masse: Außengeleitete vs. innengeleitete Charaktäre
Ein gemeinschaftsstiftender Feind oder Sündenbock oder ein gemeinsames Ziel – ob wie früher die Eroberung der Welt oder heute die Rettung der Welt (beim Spiel ‘Risiko’ der Firma Hasbro wurde das Spielziel bei identischer Spielmechanik von ‘Eroberung der Welt’ in ‘Rettung der Welt’ umgedeutet) – fördert das Gemeinschaftsgefühl und setzt Energien frei. Eine klassische Rolle in diesem politischen Gesellschaftsspiel findet sich für jeden, wenn sie auch nicht in jedem Falle freiwillig übernommen wird. Da gibt es auf Seiten der Majorität den Anführer und die Offiziere, treue Gefolgsleute und Grenadiere, denen auf der anderen Seite Rebellen und Indianer, Außenseiter und ‘Böse Buben’ gegenüberstehen, die gelegentlich wie etwa Donald Trump sogar die Macht erringen, meist aber am Ende den Schwarzen Peter auf der Hand haben.
Die Massen zu lenken gelingt umso einfacher, je weiter Entfremdung durch Entpersönlichung von Beziehungen und familiäre und kulturelle Entwurzelung voranschreitet. Authentische Vorbilder, die einst an reale Personen im Umfeld gebunden waren, und Wertvorstellungen, die sich ebenso an natürlichen Bedürfnissen wie an deren Einbettung in tradierte kulturelle Verhaltensmuster zum Wohle der Gemeinschaft orientieren, werden in der modernen Massengesellschaft mehr und mehr durch irreale, medial vermittelte, ferne und ferngesteuerte und damit zur Manipulation der Massen verwendbare Kunstfiguren, Idole und Ideale ersetzt. Die Menschen sind nicht mehr in dem sicheren Bewusstsein ihres Eigenwertes gegründet und orientieren sich nicht länger an einem im Prozess der Sozialisation erworbenen und in sich gespeicherten inneren Wertekompass, sondern werden von der narzisstischen Sehnsucht nach Erfolg und Anerkennung der niemals um ihrer selbst willen Geliebten und um ihre Austauschbarkeit Wissenden angetrieben. [=> ‘Die einsame Masse’: innen- bzw. außengeleitete Persönlichkeit (2)].
Wer über kein stabiles Wertegerüst verfügt und sich selbst nie gefunden oder längst verloren hat, ist froh, wenn er – zumal in unsicheren Zeiten – nicht mühsam nach Alternativen und eigenen Wegen suchen muss, sondern gemeinsam mit der Masse mitlaufen und Ideologien oder Führungsfiguren auf ausgetretenen Pfaden bequem und ohne beklemmende Verunsicherung oder Einsamkeit folgen kann. Das war schon immer so, aber noch nie waren die Wege, auf denen man in die Irre geführt werden konnte, so beliebig oder gar abwegig wie heute, da es einen inneren Kompass gar nicht oder kaum mehr gibt.
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Links:
(1) Rezension des Buches: ‘Hitlers Deutsche’ (Zeit | E)
(2) Die einsame Masse (David Riesman, Wikipedia)
(3) Die Gartenparty geht weiter (Achgut)
(4) Rezension des Spiegel zu einem früheren ‘Hitler-Buch’ Eitners mit dem Titel: ‘Der Führer. Hitlers Persönlichkeit und Charakter’ von 1982.
(5) Psychologie der Massen (Gustave Le Bon, Wiki)
(6) Il Principe (Niccolò Machiavelli, Wiki)
(0) Masse und Macht (Elias Canetti, Wiki)
(0) Massenpsychologie und Ich-Analyse (Freud, Wiki)
(0) Massenpsychologie und Ich-Analyse (Volltext Freud, Gutenberg)
(0) Na, wie bin ich? (u.a. über Tom Ziehe, taz)
(0) Tom Ziehe: Der Neue Narzisstische Sozialisationstyp ()
Titelbild: Caspar David Friedrich [Public domain or Public domain], via Wikimedia Commons
[…] Träge Masse: 90% sind Mitläufer […]
Wächst eine Generation von Narzissten heran?
https://www.welt.de/vermischtes/article155613160/Wie-Eltern-ihre-Kinder-zu-Tyrannen-machen.html
„Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. Warum sollte auch irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, daß er mit heilen Knochen zurückkommt? Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Rußland, noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar.
Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt. (…)
Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.“
(Hermann Göring, 18. April 1946, Nürnberg, abends in seiner Zelle, „achselzuckend“; vgl. G.M. Gilbert, „Nürnberger Tagebuch“, Fischer Frankfurt a. M., 1962, S. 270)
http://www.orbit9.de/wissen/goering-krieg