Der gegenwärtige Krieg in und um die Ukraine ist der Kulminations- und Tiefpunkt eines jahrzehntelangen Ringens um die Vorherrschaft in der Ukraine zwischen dem ‘Westen’ und Russland.
Die Ukraine- Politik in West wie Ost ist geprägt von der geostrategischen Bedeutung, aber wohl ebenso sehr auch vom enormen Potential der Ukraine, der hervorragenden Qualität der Ackerböden und den wertvollen Rohstoffen, u.a. reichhaltige Vorkommen seltener Erden. Wer immer einen dominanten Einfluss in der Ukraine hat, ist dem Widersacher gegenüber geopolitisch im Vorteil. Siehe dazu auch die Überlegungen des einflussreichen Geostrategen Zbigniew Brzezińskis, der die Ukraine in seinem geostrategischen Standardwerk ‘Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft’ als ‘Dreh- und Angelpunkt’ zwischen Ost & West betrachtet. Siehe Exkurs (1) unten.
Ukraine zwischen Ost und West
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine gibt es ein Tauziehen zwischen Ost und West um Einfluss im Land. Während Russland sich lange Zeit mit einer Neutralität der Ukraine und einem indirekten Einfluss auf sie zufrieden gab, steht sie in der Politik der USA regelrecht auf der Speisekarte. Lt. Aussage von Viktoria Nuland haben die USA seit den 1990er Jahren 5 Mrd Dollar investiert (2), um die Ukraine in ihren Einflussbereich zu ziehen.
Die ‘orangene Revolution’ 2004 hievte eine westlich orientierte Regierung unter Wiktor Juschtschenko ins Amt, die das Land für westliche Investoren öffnete.
2010 gewann jedoch wieder der russland- freundliche Wiktor Janukowitsch, der eine enge Kooperation mit der EU und mit Russland anstrebte.
Die Bevölkerung war laut Umfragen in 2013 zumindest bis zum Regime Change im Verlauf des Maidan- Putsch 2014 in zwei etwa gleich große Lager gespalten, deren eines nach Osten und deren anderes nach Westen tendierte. Dies hat nicht zuletzt ökonomische Gründe, da der industriell geprägte Osten des Landes wirtschaftlich eng mit Russland und anderen ehemaligen GUS- Ländern verflochten ist, der Westen hingegen eine Intensivierung der Beziehungen mit der EU anstrebt. Die Ukraine sitzt gewissermaßen zwischen zwei Stühlen aka Wirtschafts- und Politikräumen, die wirtschaftlich und geopolitisch miteinander konkurrieren und Annäherungen an das jeweils andere Lager mit Argwohn betrachten.
In der Ukraine geben mächtige Oligarchen den Ton an, die Wirtschaft, Medien und Politik dominieren und korrumpieren. Das Land gilt als das korrupteste in Europa und laut dem französischen Präsidenten Macron kann es noch Jahrzehnte dauern, bis es EU- Standards erfüllt.
Euromaidan und Regime Change
Anlass für den Euromaidan 2014 war allgemeine Unzufriedenheit im Lande sowie die Weigerung des Präsidenten Wiktor Janukowitsch, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, da erhebliche Einbußen in den Wirtschaftsbeziehungen mit dem GUS- Raum befürchtet wurden und zudem EU und IWF der Ukraine erhebliche Reform- bzw. Sparauflagen als Bedingung für eine Annäherung an die EU bzw. für Kredite machten.
“Die Aussetzung wurde als Ergebnis der Einflussnahme Russlands gedeutet, aber auch als Ausdruck des Dilemmas der Ukraine, sich zwischen EU und Russland entscheiden zu müssen.” (ebenda). Denn auch die EU pochte auf relative Exklusivität bei der zukünftigen wirtschaftlichen Ausrichtung der Ukraine: “Ein Land kann nicht zugleich Mitglied einer Zollunion sein und in einer weitreichenden Freihandelszone mit der EU”, sagte Kommissionschef José Manuel Barroso. (Ukraine will sich nicht auf EU festlegen)
Nach dem Regime Change 2014 wurde die Ukraine politisch praktisch von den USA übernommen und die Brückenfunktion der Ukraine zwischen Ost & West gekappt. Aus einem Land zwischen Ost & West wurde eine westliche Kolonie tief im Osten, ein Stachel im russischen Fleisch, denn die Ukraine ist Kernland der ‘Rus’, aus der später der neuzeitliche Staat Russland hervorging. Etliche Exil- Ukrainer mit amerikanischem Doppelpass saßen in der Regierung Poroschenk und anderen Schlüssel- Positionen, z.T. frisch eingebürgert.
Präsidentschaft Selenski
Im Februar 2019 wurde unter der Regierung Selenski das Ziel eines NATO- sowie eines EU-Beitritts in der Verfassung festgeschrieben, ein Umstand, der von Russland vermutlich als feindlicher Akt aufgefasst wird. Man stelle sich vor, Deutschland, Frankreich, Italien oder Polen strebten ein Militär- Bündnis mit Russland oder China an, was dann wohl im Westen los wäre?
Finanziell hängt die Ukraine am Tropf des Westen, wird vom westl. Steuerzahler subventioniert, dient nationalen Oligarchen und globalen Investoren als Beuteland und westlichen Geostrategen als Vorposten. Die übliche Doppelstrategie: Profite werden privatisiert, Kosten & Lasten sozialisiert. Demnächst soll der Verkauf von Ackerböden an ausländische Investoren allgemein freigegeben werden. Die Ukraine ist weltweit der fünftgrößte Exporteur von Weizen, exportiert viele weitere wertvolle landwirtschaftliche Produkte und soll über 20% der weltweit wertvollsten Schwarzerde- Ackerböden verfügen.
Die Welt schrieb am 11.03.2015: “Der IWF will am Mittwoch über ein neues, längerfristiges Kreditpaket von 17,5 Milliarden Dollar (etwa 16,3 Milliarden Euro), gestreckt über vier Jahre, an die vom Krieg ausgezehrte Ukraine entscheiden. 2014 erhielt das zweitgrößte Land Europas schon mehr als acht Milliarden Dollar vom IWF und anderen internationalen Organisationen.”
Das RND schreibt am 24.01.2022: “Insgesamt hätten die EU und ihre Finanzinstitutionen dem Land seit 2014 mehr als 17 Milliarden Euro in Krediten und Zuschüssen zur Verfügung gestellt. Von der Leyen bekräftigte, dass die Ukraine ein freies und souveränes Land sei, das seine eigenen Entscheidungen treffe.” (!)
Im Falle eines EU- Beitritts sind weitere Zahlungen und Subventionen des EU- Steuerzahlers in der Größenordnung der Zahlungen für Polen zu erwarten, also mehr als 10 Mrd Euro pro Jahr, in Anbetracht der Kriegsschäden vermutlich sogar noch weitaus mehr. Trotz all dieser Subventionen, der neuen westlichen Freiheit und all der enormen Ressourcen, die das Land selbst zu bieten hat, ist das BIP pro Kopf in der Ukraine laut Wikipedia nicht einmal halb so hoch wie das in Russland!
Organisch im Sinne von Souveränität und Selbstverantwortung ist diese Entwicklung nicht. Obwohl die Ukraine über hervorragende Substanz verfügt, mit besten Ackerböden, Bodenschätzen und auch einer gut gebildeten Intelligenzia, die Selbstbesimmung und Unabhängigkeit aus eigener Kraft ermöglichen würden. Ihre Rolle als Spielball und Streitobjekt zwischen USA, EU und Russland statt als Brücke zwischen Ost und West ist eine Tragödie.
Würden alle 3 Konfliktparteien – der Westen, Russland und vor allem die Ukraine selbst – den Status des Landes als neutrale Brücke zwischen Ost & West akzeptieren, wie es sich aufgrund der Bevölkerungsstruktur – fast 20% der Ukrainer sind ethnische Russen, noch mehr haben enge familiäre oder freundschaftliche Bindungen an Russen in der Ukraine oder in Russland – geradezu anböte, gäbe es diesen Krieg vermutlich nicht.
(1) Die Einzige Weltmacht
Zbigniew Brzezinski ist der wohl einflussreichste US- amerikanische Geostratege der vergangenen 50 Jahre. In seinem Buch ‘Die einzige Weltmacht’ formuliert er die Geostratiegie der USA seit dem Unter- gang der Sowjetunion. Ich gehe davon aus, dass diese Analyse sowohl den US- Präsidenten wie auch Putin bestens vertraut ist.
Die Ukraine hat nach Brzezinski eine herausragende Bedeutung in der Geopolitk des Westens wie in derjenigen Russlands. Hier einige Auszüge aus dem Wikipedia- Artikel zu Brzezinskis Buch ‘Die einzige Weltmacht’ zum Kapitel: Das eurasische Schachbrett:
«Die Ukraine hat eine besondere Bedeutung im Spiel der Kräfte, trägt sie doch nach Brzezinski „durch ihre bloße Existenz“ zur Umwandlung Russlands bei.
“Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegend asiatisches Reich werden, das aller Wahrscheinlichkeit nach in lähmende Konflikte mit den aufbegehrenden Staaten Zentralasiens hineingezogen würde, die den Verlust ihrer erst kürzlich erlangten Eigenstaatlichkeit nicht hinnehmen und von den anderen islamischen Staaten im Süden Unterstützung erhalten würden.” […]
Da zunehmend Konsens darüber besteht, dass die Nationen Mitteleuropas sowohl in die EU als auch in die NATO aufgenommen werden sollten, richtet sich die Aufmerksamkeit auf den zukünftigen Status der baltischen Republiken und vielleicht bald auf den der Ukraine.[…]
Das Jahrzehnt zwischen 2005 und 2015 sieht Brzezinski als Zeitrahmen für eine „sukzessive Eingliederung“ der Ukraine. Wenn Russland dies akzeptiere, entscheide es sich damit dazu, selbst ein Teil von Europa zu werden. Weigert sich Russlands, so bedeute dies, dass es Europa „zugunsten einer eurasischen Identität und Existenz den Rücken kehrt.“ Die Art und Weise der Entwicklung zu Europa hin oder von Europa weg wird für Russland höchste Bedeutung haben, der Weg zu Europa erscheint Brzezinski dabei zwingend notwendig.
„Dieser Prozess wird sich beschleunigen, wenn ein geopolitischer Kontext geschaffen ist, der Russland in diese Richtung treibt und zugleich andere Versuchungen ausschließt. Je rascher sich Russland auf Europa zubewegt, desto schneller wird sich das Schwarze Loch im Herzen Eurasiens mit einer Gesellschaft füllen, die immer modernere und demokratischere Züge annimmt. Tatsächlich besteht das Dilemma für Russland nicht mehr darin, eine geopolitische Wahl zu treffen, denn im Grunde geht es ums Überleben.“»
Weitere Links:
Ukraine (Wikipedia)
Der Ukraine-Konflikt: Die Geschichte dahinter (Wissen2Go / YouTube)
Euromaidan und Ukraine Krise 2014 / 2015 (neuland)
Analyse der russischen Strategie in der Ukraine (Antispiegel)
Will Putin noch den “Regime Change”? (Heise)
Richard David Precht stellt Sinn von ukrainischem Widerstand gegen Russland infrage (RND)
Ukraine hat Rechtsextreme nicht unter Kontrolle (Amnesty, 2019)
Krieg in der Ukraine: Wie kann eine Friedenslösung aussehen? (RND)
Ex-Merkel-Berater Vad gegen Lieferung von schweren Waffen an Ukraine (gmx)
Grafik:
Роман Наумов, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Rbrechko, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Ausführliche Darstellung des Ukraine- Konflikts seit 2014:
Der Ukraine-Krieg – Die etwas andere „Wahrheit“
https://publikum.net/der-ukraine-krieg-die-etwas-andere-wahrheit/
Putins Welt, Putins Ziele
Interview mit Rußland- Experten und Putin- Biograph Fasbender
(Das Interview fand vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine statt)
“Die Minsker Verträge sahen die Rückkehr zweier abtrünniger Teilprovinzen in den ukrainischen Staat vor. Indem eine der Vertragsparteien diese Provinzen als unabhängig anerkennt, ist diese Konstellation hinfällig geworden. Rußland steigt aus Minsk aus und zementiert den territorialen Konflikt in der Ostukraine. Damit wird ein Nato-Beitritt der Ukraine dauerhaft unmöglich. Man kann das als Maßnahme lesen, mit der Rußland auf die fehlende Bereitschaft des Westens (und der Ukraine) reagiert, das Land zu „finnlandisieren“.[…]
Rußland hat vier Konfliktziele. Die Ukraine soll nicht in die Nato, die Nato soll nicht in die Ukraine, die Ukraine soll auch bilateral kein militärischer Bündnispartner der USA werden und sie soll verpflichtet werden, die Krim nicht militärisch zurückzuerobern.[…]
Als Ultima Ratio, um die russischen Ziele durchzusetzen, kann man einen militärischen Vorstoß auf Kiew nicht ausschließen. Das gleiche gilt für den Fall, daß die Ukraine, mit oder ohne ausländische Hilfe, zur militärischen Rückeroberung der Krim ansetzt.[…]
Den Untergang des russischen Kolonialreichs in Zentralasien und den Verlust des südlichen Kaukasus und des Baltikums hat er [Putin] ohne nennenswertes Bedauern akzeptiert, ebenso das Verschwinden des ostmitteleuropäischen Glacis.
Sein [Putins] Trauma ist das Auseinanderbrechen der historisch- kulturellen ostslawischen Einheit aus Großrussen, Kleinrussen, Neurussen und Weißrussen. Vor allem die Tatsache, daß die Bruderländer Ukraine und Weißrußland zu Spielbällen im geopolitischen Konflikt geworden sind. Ob er (oder seine Nachfolger) das in irgendeiner Form heilen können, steht derzeit in den Sternen.[…]
Putin und die russische politische Klasse setzen darauf, daß der Westen die Welt mit seinen Werten und seiner Gesellschafts- ordnung nicht mehr wie in der Vergangenheit dominieren kann.
Rußland wird ebenso wie China und künftig auch andere nicht-westliche Länder seine Interessen offensiver durchsetzen. Dazu gehört, daß der Kreml die europäische Friedensordnung der vergangenen 30 Jahre aufs Spiel setzt – aus russischer Sicht rangiert das Interesse höher, den militärischen Westen keinesfalls an die russische Grenze heranrücken zu lassen.[…]
Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erleben wir die europäische Weltmacht als endgültig abgewickelt. […] Der ganze Konflikt illustriert, wie irrelevant unsere eurozentrische Weltsicht inzwischen geworden ist.”
„Der Konflikt hat erst begonnen“
https://jungefreiheit.de/debatte/interview/2022/der-konflikt-hat-erst-begonnen/